Exposé "Salz deiner Heimat" Manuel Vargas


Zeichnung von Alejandro Salazar


 

Titel: Salz deiner Heimat

Autor: Manuel Vargas

Genre: Roman

Zielgruppe: Personen mit Interesse an Lateinamerika und indigener Kultur

Atmosphäre: nachdenklich, berührend, traurig, mystisch

Perspektive: Ich-Erzähler        

 

Manuel Vargas wurde 1952 in Huasacañada, einer Gemeinde in der Provinz Vallegrande (Santa Cruz) in Bolivien geboren. Er ist ein renommierter Schriftsteller, der sein Leben der Literatur gewidmet hat. Sein Literaturstudium absolvierte er an der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen und Fabeln wie Cuentos tristes, Historias de gente sola, Retratos de familia, Pilares en la niebla, Andanzas de Asunto Egüez, Música de zorros, Los descubrimientos de Domingo Segundo Cuentos del Achachila, El sueño del picaflor oder Historia de Bolivia.

 

Seine Erzählungen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 1998 erschien unter seinem Namen die Anthologie Die Heimstatt des Tío mit Erzählungen zahlreicher bolivianischer Autoren. Seit 1996 leitet er den Verlag Correveidile.

 

Im Jahr 2014 veröffentlichte Vargas den Roman Sal de tu tierra (Salz deiner Heimat). Auf 221 Seiten wird die Lebensgeschichte der Protagonistin Melisa erzählt, die auf einer wahren Begebenheit beruht.

 

Als Fünfjährige ist Melisa gezwungen, ihr bescheidenes Zuhause im Hochland Boliviens zu verlassen und reist mit ihrem Vater illegal nach Chile ein. Hin- und hergerissen zwischen Vater und Mutter, verschiedenen Kulturen und Ländern gleicht ihr Leben einer Reise. Stets ist sie auf der Suche nach einer Heimat und sich selbst.

 

Melisas Geschichte ist für den Leser aber auch wie eine Reise in das Altiplano, das Hochland Boliviens. Liebevoll detailliert, farbig und mystisch beschreibt der Autor die fremde Welt der Aymara und Urus, der indigenen Völker Boliviens.

 

Wir lesen über ihre Rituale und Bräuche und erfahren von Lama-Karawanen, die das wertvolle Salz des Hochlands, die Essenz der Erde, seit Jahrhunderten zum Handel in die Dörfer bringen. Wir lernen uralte Fabeln und Legenden kennen sowie Pachamama, die personifizierte Mutter Erde, die alles eint, von der alles kommt, die uns ernährt und uns heilt.

 

Durch Melisas Augen erleben wir die Geschichte ihres Landes und auf ihrem Weg gewinnt der Leser einen ganz eigenen Blick auf das Bolivien von heute.

 

 

Das Buch ist aus der Perspektive Melisas als Ich-Erzählerin geschrieben. Nur wenige Personen in Melisas Umfeld nehmen eine wichtige Rolle in der Handlung ein: ihre Eltern, ihre Großmutter, ihre Geschwister, ihr untreuer Ehemann Satuco sowie ihr späterer Lebensgefährte Na und ihre einzige Freundin Guillermina.

 

Der Autor entschied sich für eine außergewöhnliche Sprache: das ganz eigene castellano der indigenen Bevölkerung, gespickt mit Ausdrücken der Aymara. Es klingt wie eine wortwörtliche Wiedergabe von Gedanken der Protagonistin. Diese ganz besondere Wirkung irritiert den Leser zunächst etwas, doch bald ist auf jeder Seite des Buches der Klang von Melisas Stimme zu hören. Salz deiner Heimat ist eine berührende Geschichte, die uns gleichwohl lehrt, mutig zu sein, auf das Leben zu vertrauen und niemals zu vergessen.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

1.    Fünf Jahre bin ich gerade mal

2.    Ich liege unter der Erde

3.    Nur an die Grenze denke ich gerade

4.    Lama, ein heiliges Tier

5.    Wohin gehst du, Kleine? Nach Arica, Señor!

6.    Ich bin mit meinem Vater in der Pampa

7.    Dieses Mädchen, die Guillermina, erinnerst du dich?

8.    Also waren sie Uru oder Chipaya?

9.    Ach, mein Satuco, mein lieber Satuco!

10.   Sie arbeiteten für die Sterne

11.   Das ist Bolivien, nicht wahr, Satuco?

12.   Von welcher Seite wird uns der Fuchs begegnen?

13.   Jetzt erzähle ich dir etwas, weil ich sterben werde

14.   Gerne würde ich diese Welt weben

15.   Ich ziehe meine Pollera an

16.   An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, oberhalb des Hügels, wo das Glück liegt

17.   So bin auch ich nach Santa Cruz gereist

18.   Ich ziehe meine Pollera aus

19.   Diese kleinen Männer von den Salzseen

20.   Und ich, wer bin ich?

21.   Der Na hat mir von der Welt erzählt

22.   Die Lama-Karawane ist da!

23.   Deshalb suche ich jetzt nur nach dem Stern

 

20. Kapitel

 

Und ich, wer bin ich?

 

Mein Vater muss Uru gewesen sein, habe ich gedacht, wenn ich überhaupt mal daran gedacht habe. Also bin ich eine halbe Uru, halb, halb, aus der Zeit des Halbschattens.

 

Und genauso denke ich auch schon: Wer bin ich eigentlich in dieser Welt? Wenn ich alleine bin, dann fange ich an nachzudenken, wenn ich nachts nach Oruro reise und im Bus aufwache. Warum bin ich wohl so? So denke ich und wache auf. Wir sind noch nicht angekommen; gut geschlafen habe ich. Ich drehe mich auf meinem Sitz um und suche nach meinem Kamm. Ich kämme mich, ohne Spiegel. Ja, doch, wenn ich in dem Haus in Cochabamba bin, am Nachmittag, dann bin ich manchmal alleine und schaue mich an. Ich muss nach Oruro zu diesem Medizinmann gehen, zum Heiler, um meinen Mann zu heilen. Ihn zu heilen? Ja, von diesen flüchtigen Gefühlen zu dieser anderen Frau.

 

Ich setze mich hin und schaue mich im Spiegel an. Zwei Zöpfe habe ich, lang sind sie. Ich bin gerade einmal vier Jahre alt und meine Mutter sagt zu mir: „Komm, ich bring es dir bei.” Sie zeigt mir, wie ich mir Zöpfe machen kann. „Später wirst du sie dir ganz alleine machen. Wir Frauen müssen uns ordentlich frisieren.”

 

Ich zerzause mir das Haar; alt sehe ich schon aus, vom Leben gezeichnet. Warum ist mein Mann wohl so? Warum halte ich ihn aus? Innerlich schreie ich, reibe mir die Ohren; mit meinen Händen befeuchte ich mich mit Wasser; Augen, Ohren, Haare; meine Finger sind der Kamm, nach und nach, und ich spüre, wie die Ruhe kommt. Woher kommt sie wohl? Mit den Händen streiche ich meine Haare glatt; meine Finger, der Kamm, so, es ist schon spät. Meine Kinder kommen bald. Ich beginne mit dem Flechten. Wofür nur? Meine Mutter hat es mir so beigebracht. „Du bist eine kleine Dame.” Daran erinnere ich mich. Und später in Arica dieses Mädchen, die Guillermina… Erinnerst du dich? Die mir Damenschuhe kaufte. Sie sagte zu mir: „Komm, ich frisiere dich. Du kannst das nicht.” Sie hat mich an den Haaren genommen und mich auf diese Weise, auf die andere Weise frisiert. „Nicht jammern, den Männern gefällt das so.”

 

Jetzt bin ich schon alt; ich bin nicht alt; ich greife nach meinen Haaren, nach dem geflochtenen und nach dem noch losen Teil. Noch ein bisschen mehr Wasser und gleich habe ich einen Zopf fertig. Jetzt der andere. Also wer bin ich wohl? Es gefällt mir aber; ich bin eine Frau und ich werde sterben. Die Frau im Spiegel lächelt mich an. „Sterben wirst du?“, sagt sie mit ihren Augen. Meine Augen sind leicht mandelförmig, meine Nase gebogen wie bei einem Papagei, meine Lippen weder dick noch schmal, allerdings treten sie ein bisschen hervor. Was sagt mein Gesicht? Was sagt mein Körper? (Man darf sich nicht anfassen, heißt es. Man darf sich nicht anschauen, heißt es.) Den Spiegel habe ich in Arica kennen gelernt. „Sei nicht albern, schau hin“, sagt die Guillermina. In der Stadt ist es so. Ich bin nicht so. „Man darf sich nicht im Spiegel anschauen“, sagt meine Mutter. „Ja, Mutter“, antworte ich ihr, als kleines Mädchen, und beobachte die Pampa und denke an das Wasser der Lagune, in dem sich die parihuanas (Flamingos) anschauen; in dem sich ihre rosafarbenen Füße spiegeln, ihre weißen Bäuche. Jaaaaa, sie haben einen Spiegel. Man nennt sie auch parinas. Parinaquta: See der Flamingos. (Das ist ein kleines Dorf an der Landesgrenze.) Ein heiliger Vogel, sein Blut. Die gefallen mir sehr gut, liebe Mutter. Alle haben sie ihren Spiegel, liebe Mutter. Ich bin parihuana, nur kann ich nicht fliegen. Ich bin weder eine Aymara, noch eine Quechua. „Sei doch nicht albern, du musst wunderschön aussehen“, sagt die Guillermina. Eine Frau bin ich. Was ist das?

 

Die zwei Zöpfe habe ich jetzt fertig; ich seufze, ich weine. Bin ich eigentlich zufrieden? Meine Haare sind weiß geworden, ganz borstig sind sie schon; ich bin tot. Ich liege unter der Erde und meine Haare wachsen, ganz schwarz wieder, so wie damals, als meine Mutter mich mit altem Urin wusch und die Haare glänzten und sie mich küsste: „Mein kleines Mädchen, mein kleines hübsches Mädchen, uruwawa.“ Warum erinnere ich mich an meine Mutter? Wo sind die beiden? Das muss ich dir erzählen. Ich weiß bloß, dass sie vor mir gestorben sind, nur von ihren letzten Tagen. So wie immer?

 

Ich habe nie erfahren, wie sie denn gestorben sind, meine Mutter und mein Vater. Ihn treffe ich in Santa Cruz, im letzten Jahrhundert habe ich ihn gesehen. Ob er wohl dort gestorben ist? Ist er vielleicht in seine Heimat zurückgekehrt? Er weiß ja gar nicht mehr, wie man nach Hause zurückkehrt; er weiß bloß, wie man von Arica zurückkehrt. In Santa Cruz war er zufrieden. Er hatte keine Kinder, keine Frau und keine Verpflichtungen mehr. Ganz allein ist er geblieben. Ganz allein ist er gestorben. Warum? Wer hat ihn wohl beerdigt? Der Arme, ein für immer Heimatloser.

 

Von meiner Mutter habe ich am wenigsten erfahren. Welche Verwandten sind wohl in Rosasani geblieben? Wer hat wohl ihr Land übernommen? Wenn es um so etwas geht, taucht immer plötzlich Verwandtschaft auf. „Nein“, sagen meine Verwandten in Cochabamba, „wir haben es nicht zurückholen können.“ „Was?“ Und dann erzählen sie es mir. Also, dass sie in Oruro gesucht haben; nur ich bin ja die einzige, die bisher nichts von diesem Grundstück in Rosasani wissen wollte. Ich mag die Erde, eine andere Erde.

 

Meine Onkel sollen auch daran interessiert gewesen sein, aber meine Mutter war stärker, kämpferischer. „Was ist passiert?“ „Am Schluss hat sie alles weggegeben“, sagen sie voller Zorn. „An wen hat sie es weggegeben?“ „An die Kirche hat sie alles verschenkt.“ „Was?“

 

Ich habe also erfahren, das ist das Einzige, was ich erfahren habe, dass sie bekehrt worden ist. Sie hat alle Bräuche der Aymara abgelegt, alles. Ihr Mann war ihr ein schlechtes Vorbild. Saufereien, Streit. Sie war es leid und hat ihren Weg gefunden, sagt sie, und sie meint, den Wahrhaftigen. Sie glaubt nun ans Evangelium. „Halleluja, halleluja!“ Um jetzt ein wahres Leben zu führen, soll sie gesagt haben. Was für ein wahres Leben? Und als meine Verwandten zu ihr kamen: „Jetzt ist es zu spät“, soll sie alle Dokumente des Grundstücks schon diesen Brüdern ihrer neuen Religion überlassen haben.

 

Angeblich geht sie als greise Frau predigend in Oruro umher, in Challapata, Huari, Totora, in noch anderen Dörfern. Meine Onkel und meine Brüder haben sie wohl nicht ganz ernst genommen: „Verrückt ist sie“. Mit der Bibel, sagen sie. Keine Feiern, keine traditionellen Bräuche. „Wir sind Gottes Kinder, halleluja!“, und dabei singt sie. Sie ist sowieso eine Frau und jetzt auch noch verrückt geworden und hat das gesamte Hab und Gut der Familie verkauft, um das Geld zu ihren Brüdern zu bringen. Brüder! „Alles im Namen von Yahweh“, wiederholt sie dabei immer wieder. Nun, sie hat diese Welt nicht ertragen können. Sie wusste nicht, wie man leidet. So hat man sie betrogen. Das ist es, was ich von ihr erfahren habe. Ich weiß nicht, sie ist schon gestorben. Vermutlich ist sie in ihrem Himmel.

 

Und ich, wer bin ich? Mal sehen. Ich bin jetzt nur noch am Nachdenken. Wann? Mein Vater muss Uru sein, habe ich gedacht. Meine Mutter nicht. Die Urus kommen vom Wasser, heißt es. Sie verehren eine Göttin des Sees. Aber ich mag die Erde lieber. Darüber denke ich nach, wenn ich in meinen Träumen den Fährmann von Callapa vor mir sehe. Warum hat er nur gesagt, dass wir verwandt sind? Weshalb habe ich Angst vor dem Fluss? Ich bin keine Uru. Was bin ich? Nein. Ich bin das nicht in dem Spiegel. Es ist nicht gut, dort hinein zu schauen, er lügt, sagt sie. Ein Vogel möchte ich sein, jaaaaa. Leke-leke. Stattdessen bin ich sogar ziemlich am Ende, lebend tot, sage ich. Nein, ich bin immer tot.  

 

(dt. Übersetzung: Christine Ocampo Alvarez)